J. Beckmann: Selbstverwaltung zwischen Management und »Communauté«

Cover
Titel
Selbstverwaltung zwischen Management und »Communauté«. Arbeitskampf und Unternehmensentwicklung bei LIP in Besançon 1973–1987


Autor(en)
Beckmann, Jens
Reihe
Histoire 148
Anzahl Seiten
377 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Bernsee, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Viele Industriezweige Westeuropas sahen sich ab den 1970er-Jahren großen Herausforderungen ausgesetzt: Das außerordentlich dynamische Wachstum der Nachkriegsjahre war vorbei und es galt, in einem sich verstärkenden internationalen Wettbewerb (und einem zunehmend marktorientierten wirtschaftspolitischen Klima) zu bestehen. Zu den betroffenen Industriezweigen gehörte die Uhrenherstellung – ein traditionelles Gewerbe, das zunehmend unter Wettbewerbsdruck aus außereuropäischen Staaten geriet. Ein Fall, der national für Schlagzeilen sorgte, war dabei das Unternehmen LIP aus dem ostfranzösischen Besançon. Nach Auseinandersetzungen mit der Unternehmensführung nahmen die Beschäftigten das Uhrengeschäft in die eigene Hand und organisierten es in Selbstverwaltung neu, zuletzt in Teilen als Genossenschaft.

Das vorliegende Buch von Jens Beckmann enthält eine Untersuchung dieses Prozesses von seinen Anfängen bis in die 1980er-Jahre. Es basiert auf der Dissertation des Autors, die 2017 an der Universität Potsdam eingereicht wurde. Beckmann möchte darin die Konstitution und den Wandel der Erfahrungen untersuchen, die „die Beteiligten im Arbeitskampf und im Aufbau der Genossenschaftsbetriebe machten und wie diese den betrieblichen Alltag, die Entscheidungsstrukturen und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Betriebe prägten“ (S. 9). Hypothese ist dabei, „dass der Arbeitskampf von 1973 es mit seiner der Öffentlichkeit zugänglichen Fabrik ermöglichte, verschiedene Formen der Kritik in einen Dialog zu bringen, der für die Beteiligten den Reichtum dieser Betriebsbesetzung ausmachte“ (S. 14). Den größeren Forschungskontext für diese Studie bilden Untersuchungen im Anschluss an die Thesen Anselm Doering-Manteuffels und Lutz Raphaels und Studien zum „Postfordismus“ bzw. zum Wandel der Arbeitsverhältnisse im 20. Jahrhundert sowie zu Mobilisierungs- und Politisierungsdynamiken seit den späten 1960er-Jahren. Methodisch möchte der Autor sein Untersuchungsobjekt anhand von Ansätzen zur „Moralischen Ökonomie“ analysieren, indem er die Frage danach hervorhebt, in welchem Zusammenhang die Betriebsbesetzungen und Genossenschaftsgründungen mit den Vorstellungen vom „guten Leben“ der Beschäftigten standen. Als Quellenkorpus dienen dem Autor unveröffentlichte und veröffentlichte Schriftquellen aus Archiven, graue Literatur, Beiträge aus Funk und Fernsehen sowie Interviews. Die Darstellung unterteilt sich in sieben Kapitel und „folgt einem gleichermaßen chronologischen wie problemorientierten Zugang“ (S. 36).

Kapitel eins bis drei widmen sich der Phase zwischen 1973 und 1976. Zunächst geht es um den Beginn des Arbeitskampfes bei LIP und die Spezifika der „entstehenden Demokratie vor Ort“ (S. 41). Nachdem der Autor verdeutlicht hat, wie bedeutend das Unternehmen für die Stadt Besançon war, die Belegschaft soziostrukturell ausgestaltete und welche Konflikterfahrungen schon vorher bestanden, untersucht er die Veränderungen in Produktion, Öffentlichkeitsherstellung sowie in den Basismobilisierung-Verhandlungs-Relationen der Beschäftigten, um anschließend die Rezeption des Arbeitskampfes als „Selbstverwaltungskonflikt“ zu diskutieren. Das zweite Kapitel handelt von der wirtschaftlichen Entwicklung des Unternehmens bis zum Konkurs 1976, wobei der Autor auch die Strategien des schweizerischen Mutterkonzerns sowie die Aktivitäten und Vorstellungen des neuen Geschäftsführers näher in den Blick nimmt. Kapitel drei thematisiert dann die konkreten (Lebens- und) Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten und die Aushandlung dieser Bedingungen innerhalb des neu gestalteten Betriebes.

Kapitel vier stellt eine Art Kontextkapitel für die nachfolgenden Textabschnitte dar, die die Zeit ab 1976 behandeln. Der Autor zeigt hier auf, welche Produkte während der zweiten Betriebsbesetzung und der genossenschaftlichen Konstitution im Betrieb erzeugt wurden. Bemerkenswert ist dabei die zunehmende Bedeutung von Quarzuhren, die auch die Rolle von Ingenieuren und Industriedesignern innerhalb des Betriebsgefüges aufwertete, während diejenige der Uhrmacher an Relevanz verlor. Mit dem Wandel der Produkte einher gingen neue Zukunftskonzepte, die unter anderem unabhängige (und durchaus erfolgreiche) Unternehmensausgründungen etwa im Bereich der Mikro- und Medizintechnik begünstigten. Interessant ist schließlich, dass die Rüstungsproduktion – solange sie jedenfalls in nennenswerter Form existierte – nicht zur Disposition stand, trotz leiser Kritik.

Kapitel fünf bis sieben behandeln dann, ähnlich den ersten drei Kapiteln, die ökonomische Entwicklung, die unternehmensinternen Aushandlungsprozesse sowie den betrieblichen Alltag im Unternehmen. Zunächst widmet sich der Autor die Phase der zweiten Betriebsbesetzung und analysiert die hier beobachtbaren Vorstellungen von Selbstverwaltung unter den Beschäftigten, um schließlich die Entscheidung zu erklären, warum es zum Aufbau einer genossenschaftlichen Unternehmensstruktur kam. In den Mittelpunkt stellt das sechste Kapitel dann die wirtschaftliche Entwicklung der neu entstandenen Produktionsgenossenschaften, die sich rasch zu reinen Zulieferbetrieben entwickelten und es nicht vermochten, Erträge zu generieren, die ein dauerhaftes Überleben der Unternehmen sicherten. Kapitel sieben schließlich beleuchtet die betrieblichen Arbeits- und Lebensbedingungen nach der Entstehung der Produktionsgenossenschaften. Der Autor thematisiert hier einerseits die Lernerfahrungen und beruflichen Entwicklungen in den Betrieben, andererseits untersucht er – soweit dies aufgrund einer unsicheren Quellenlage möglich war – die Arbeitswege von Personen, die aus dem Betrieb ausschieden.

Leserin und Leser erfahren in dieser Arbeit anhand eines eindrücklichen Fallbeispiels, wie sich alternative Betriebsführungskonzepte in einer niedergehenden Branche der 1970er-Jahre herausbilden und in der betrieblichen Praxis niederschlagen konnten. Sie lernen ebenfalls, dass diese Konzepte nur temporär Wirkmacht entfalteten und den Untergang des Unternehmens letztlich nicht aufhielten. Die Studie zeigt zudem, wie sich das große Selbstbewusstsein der Arbeitnehmervertretung und Beschäftigen im Verlaufe des Betrachtungszeitraums reduzierte: War am Anfang noch die Rede von der Erhaltung des gesamten Personalstandes, ging es später nur noch um eine verträgliche Begleitung der Personalreduktion. Auf der Ebene der Beschäftigten wird einmal mehr deutlich, dass akademisch ausgebildeten Berufsgruppen wie Ingenieuren oder Technikern der Übergang in neue Erwerbstätigkeiten besser gelang als traditionellen Handwerksberufen, deren Wissens- und Erfahrungsbestände sich nur schwer auf neue Erwerbsfelder übertragen ließen. Das Fazit fasst sämtliche Ergebnisse der Studie gut strukturiert und informativ zusammen.

Manches an der Studie wirkt jedoch unglücklich, zumal in methodischer und darstellerischer Hinsicht: Zum einen unterlässt es der Autor, in der Einleitung dezidiert auf seinen methodischen Zugriff einzugehen. Die Arbeit hätte nicht nur durch eine Spezifizierung und Systematisierung derjenigen Begriffe gewonnen, die in Erkenntnisziel und Hypothese enthalten sind (um Beispiel „betrieblicher Alltag“, „Reichtum“), sondern auch durch eine Erläuterung der zugrunde liegenden Konzeption von Erfahrung und Wissen, die im Verlaufe der Arbeit auftauchen. Zwar hebt der Autor die Analyseperspektive der „Moralischen Ökonomie“ hervor. Diese Perspektive wird jedoch in der Studie, außer teilweise im Fazit, kaum sichtbar. Zum anderen hätte die Studie in darstellerischer Hinsicht sicher von einem noch stärker systematischen (oder „problemorientierten“) Zugang profitiert, etwa orientiert an den oben genannten Untersuchungsobjekten. In der gegenwärtigen Form fehlt mitunter ein pointiertes Aufzeigen des „Roten Fadens“, wodurch das Nachvollziehen des Argumentationsgangs bisweilen erschwert wird und einige spannende Einzelbeobachtungen versteckt bleiben. Schließlich hätte es geholfen, viele der Abbildungen besser in den Text einzubinden und Unternehmenskennzahlen – in Kapitel sechs – übersichtlicher darzustellen bzw. zu diskutieren.

Jens Beckmann hat insgesamt eine Spezialstudie für Historikerinnen und Historiker vorgelegt, die sich mit der Geschichte der Arbeit und des Kapitalismus seit den 1970er-Jahren beschäftigen. Trotz der angeführten Monita bildet seine Studie eine hilfreiche Ergänzung der aktuellen Forschung, etwa zur „Humanisierung der Arbeit“.1 Sie erweitert die bislang stark auf die Bundesrepublik fokussierte Perspektive um detaillierte Einblicke in ein französisches Beispiel.

Anmerkung:
1 Vgl. zuletzt die Beiträge in Nina Kleinöder / Stefan Müller / Karsten Uhl (Hrsg.), „Humanisierung der Arbeit“. Aufbrüche und Konflikte in der rationalisierten Arbeitswelt des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2019.

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